C. Ulbert u.a. (Hgg.): Analysen internationaler Politik

Cover
Title
Konstruktivistische Analysen der internationalen Politik.


Editor(s)
Ulbert, Cornelia; Weller, Christoph
Extent
347 S.
Price
€ 42,90
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Jan W. Meine, Zentrum für Höhere Studien, Universität Leipzig

Das vorliegende Buch ist für den deutschsprachigen Raum überfällig gewesen: Der Sammelband, in dem konstruktivistische Analysen der internationalen Politik theoretisch bearbeitet und – vor allem – empirisch an internationalen Politikbereichen getestet werden, füllt auf dem deutschen Buchmarkt für den Bereich der internationalen Beziehungen vortrefflich eine Lücke.

Man kann bedauern, dass dieses Buch nicht schon einige Jahre früher erschienen ist, aber in Anbetracht der durchweg jungen Autoren, ist dies nicht schade, da sie den „Hype“ des Konstruktivismus, welcher in den 1990er Jahren als Lösung für zahlreiche Probleme der Theorien der Internationalen Beziehungen – z. B. die Erklärung des Endes des Kalten Krieges, womit die liberale und realistische Theorienschule ihre Schwierigkeiten haben – gehandelt wurde, „überschrieben“ haben und kritisch konstruktivistische Analysen bei Themen anwenden, bei denen diese einen Mehrwert versprechen. Ein weiterer positiver Aspekt lässt sich nennen: Die Debatten um konstruktivistische Perspektiven verliefen in ihren Entwicklungen und Verästelungen stark auf einer metatheoretischen Ebene und der Verdacht einer fehlenden empirischen Nutzbarmachung konstruktivistischer Analysen wurde laut. Hier schaffen die Autoren des Sammelbandes für den deutschsprachigen Raum Abhilfe: Ihre Untersuchungen sind all the way down konstruktivistisch und zeigen die Tragfähigkeit und methodische Handhabbarkeit einer konstruktivistischen Analyse internationaler Politik.
Der Sammelband geht auf eine Tagung der Ad-hoc-Gruppe „Ideelle Grundlagen außenpolitischen Handelns“ (igapha) der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft (DVPW) aus dem Jahre 2001 zurück. Trotz dessen erhält der Sammelband – im positiven Sinn – keinen Abbildcharakter der Tagung. Vielmehr übernimmt die igapha-Ad-hoc-Gruppe eine Inkubatorfunktion für Ideen und Diskussionen zum Thema.

Konstruktivistische Analysen in der internationalen Politik gewichten nicht nur materielle Einflüsse auf die internationale Politik, sondern messen auch den ideellen Einflüssen eine entscheidende Rolle zu. Die Autoren zeigen mit ihren Studien – in all ihren differenzierten Anwendungen konstruktivistischen Forschungsdesigns – , dass Außenpolitik und internationale Beziehungen nicht nur durch nationale Interessen dominiert sind, sondern zu den zentralen Entscheidungsfaktoren auch ideelle Faktoren zählen: Ideen, Normen, Werte, Wissen, Identitäten, Kultur. Der Hauptgegenstand von konstruktivistischen Analysen ist die Sprache, womit auch gleichzeitig die Methode für eine Untersuchung determiniert ist: die Textanalyse. Dies ist auch gut an den Aufsätzen des Sammelbandes zu sehen – ihre Aussagen und Analysen basieren auf Debatten und Diskurse; besonders deutlich wird das im Abschnitt zu den „Wirklichkeitskonstruktionen durch außenpolitische Diskurse“, da in diesen Texten explizit auf „den“ Diskurs – methodisch, wie theoretisch – eingegangen wird, bevor die praktische Anwendung der konstruktivistischen Analyse erfolgt. Die insgesamt elf Aufsätze sind – neben den beiden Einführungsbeiträgen von Ulbert und Weller – in drei „Konstruktions-Kapitel“ unterteilt: Wirklichkeitskonstruktionen, Identitätskonstruktionen und Deutungskonstruktionen.

Cornelia Ulbert – wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle Transatlantische Außen- und Sicherheitspolitik am Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin – eröffnet den Sammelband mit einem Aufsatz zu theoretischen Ansätzen und methodischen Herangehensweisen. Besonders für „Einsteiger“ in das Feld konstruktivistischer Analysen eignen sich Ulberts Ausführungen, da sie in einer aufarbeitenden Perspektive die ontologischen Prämissen – Erklärung und Wandel, Akteur und Struktur, Identitäten und Interessen – sowie die epistemologischen Grundlagen konstruktivistischer Ansätze erörtert. Christoph Weller (Projektleiter am Institut für Entwicklung und Frieden der Universität Duisburg-Essen) nimmt in seinen Beiträgen – „Perspektiven eines reflexiven Konstruktivismus für die Internationalen Beziehungen“ und „Massenmediale Konstruktionen im außenpolitischen Entscheidungsprozess“ – eine stark soziologisch orientierte Perspektiven des Konstruktivismus in Anlehnung an Niklas Luhmann ein; was zu begrüßen ist, da soziologische Ansätze in den Internationalen Beziehungen – zumal unter Verwendung von Luhmanns Arbeiten – rar sind aber deren Potential wohl noch lange nicht ausgeschöpft scheint. Das könnte unter anderem daran liegen, dass mit einer reflexiv-konstruktivistischen Analyse, die Weller vorstellt, ein Komplexitätsgrad in die Analyse eingebracht wird, der methodische und praktische Probleme nach sich zieht, da der Wissenschaftler auf die Konstruiertheit der eigenen Analysen eingeht: „Reflexiv-konstruktivistische Analysen zeichnen sich nun aber gerade dadurch aus, dass sie wissenschaftliche Aufmerksamkeit nicht nur auf die politische Bedeutung ‚konstruktivistischer’ Einflussfaktoren und deren Konstruiertheit lenken, sondern zugleich auch auf den Konstruktionscharakter der eigenen Analysen“ (Weller, S. 36).

Welche überzeugenden Ergebnisse eine konstruktivistische Analyse hervorbringen kann, ist sehr gut an dem untersuchten Fall – Schaffen Nuklearwaffen „Frieden“? – von Simone Wisotzki (wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt a. M.) zu sehen. Wisotzki zeigt in ihrem Aufsatz („Macht ‚Macht’ Diskurse produktiv? Die Nuklearwaffenpolitik Großbritanniens und Frankreichs im kritisch-konstruktivistischen Vergleich“) das zentrale Problem in Bezug auf Nuklearwaffen: es ist die Frage, ob man davon ausgeht, dass Nuklearwaffen Frieden stiftend/erhaltend wirken (Idee der Abschreckung) oder ob sie das Gegenteil bewirken und Frieden eher durch Abrüstung und Vertrauen geschaffen wird. Mit dem Ende des Ost-West-Konflikts öffnete sich ein window of opportunity für Rüstungskontrolle und Abrüstung, welches aber in den 1990er Jahren – trotz viel versprechender Politikinitiativen – nicht in vollem Umfang genutzt wurde. Wisotzki zeigt, dass sich für die Analyse der Nuklearwaffenpolitik ein konstruktivistischer Forschungsansatz eignet: „da Politik hier nicht nur als Ereignis wahrgenommen und Präferenzen nicht als fix vorausgesetzt werden. Vielmehr fragt dieser Ansatz nach den Hintergründen der Interessengenese und sieht diese vor allem in nicht-materiellen Faktoren begründet“ (Wisotzki, S. 128). Denn nur, so Wisotzki, wenn die ideellen Gründe für eine Entscheidung bekannt und untersucht sind, können die Entscheidungen nachvollzogen werden – und, dies scheint besonders wichtig: es lassen sich Alternativen entwickeln, die auf bestehende Prämissen aufbauen. Daher werden von Wisotzki „soziale Konstruktionen untersuch[t], die der Nuklearwaffenpolitik in Großbritannien und Frankreich zu Grunde liegen. Diese zentralen Bedeutungssysteme sind nicht nur handlungsanleitend für die Nuklearwaffenpolitik in beiden Ländern, sie begründen auch, weshalb beide Staaten wenig Interesse an deutlicheren Fortschritten in der multilateralen Rüstungskontrolle und Abrüstung haben“ (Wisotzki, S. 128). Wisotzki kann mit ihrer kritisch-konstruktivistischen Studie überzeugend die Hintergründe für das Scheitern einer durchschlagenden Abrüstung aufzeigen, da das „Cold War thinking“ bei Entscheidungsträgern „auch im 21. Jahrhundert das Denken und Handeln“ dominiert: „Die nuklearwaffenfreie Welt wird so lange eine Utopie bleiben, wie die entscheidenden Akteure von der Wirkungsmacht und Relevanz der nuklearen Abschreckung überzeugt sind“ (Wisotzki, S. 154).

Die Aufsätze des Buches lassen sich für den an konstruktivistische Analyse per se Interessierten genauso lesen (wie wird eine konstruktivistische Forschungsperspektive auf einen konkreten Fall, ein konkretes Themenfeld angewendet?), wie für den an einem spezifischen Thema Interessierten, der hier erlesen kann, wie dieses Thema unter einer konstruktivistischen Fragestellung an Dimensionen gewinnt. Diese Doppeldimension gelingt nicht zuletzt durch die Anlage eines jeden Beitrags: vor dem spezifisch zu bearbeitenden Themenfeld wird die methodische und theoretische Perspektive erörtert und dann angewendet. So lassen sich die Aufsätze zweifach lesen, ohne dass sie an Kraft verlieren. Besonders die Aufsätze von Ulbert und Weller leisten eine Einführungsarbeit – grundsätzliche Fragen und Probleme des Konstruktivismus werden aufgegriffen und besprochen – und Aufarbeitungsarbeit – die Fußnoten bilden die Literatur zu zentralen Debatten des Konstruktivismus in den 1990er Jahr ab. Der Sammelband gibt einen sehr guten Überblick über die Differenziertheit konstruktivistischer Theorieansätze und dürfte für absehbare Zeit ein Standardsammelwerk im deutschsprachigen Raum sein.

Editors Information
Published on
26.05.2006
Author(s)
Contributor
Edited by
Cooperation
Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
Classification
Temporal Classification
Regional Classification
Book Services
Contents and Reviews
Availability
Additional Informations
Language of publication
Country
Language of review